Essay
Unter dem Deckmantel des Schönen
Erschienen in: Das Magazin
März 2021


Unter dem Deckmantel des Schönen

Sie wollen das Unkraut in Ihrem Garten auf einen Schlag loswerden? Dann hören Sie auf, es «Unkraut» zu nennen.

Das Jahr 2020 war auch das Jahr des Sauerteigbrots und des Gärtnerns. Als sich mit seinen farbigen Blättern der Herbst ankündigte, hörte ich im Radio eine Sendung über das Einwintern des Gartens. Dazu befragt, was nun zu tun sei, antwortete ein Experte: «Einfach alles stehen lassen!» Der Radiomoderator war hörbar irritiert: «Also wirklich alles stehen lassen, auch wenn es nicht schön aussieht?» Der Experte erklärte geduldig, es sei doch bireweich, wenn sich die Insekten erst im Garten paaren und ihre Eier ablegen – nur damit wir im Herbst den Garten herausputzen, alle Pflanzen abräumen und so eine ganze Generation von Insekten gleich mit entsorgen. Ein Umdenken müsse stattfinden, was als schön empfunden werde und was nicht. «Schön» solle nicht mehr die sterile, lebensfeindliche Ordentlichkeit vieler Gärten sein, sondern die bunte, lebendige Vielfalt. In seinem Fazit lenkte der Radiomoderator nur scheinbar ein und resümierte: «Also alles stehen lassen, auch wenn es nicht schön aussieht!» Die beiden haben aneinander vorbeigeredet. Wieso beharrte der Radiomoderator darauf, dass «gut für die Insekten» einen Widerspruch zu «schön für die Menschen» darstellt? Er machte eine Gleichung auf, die mir nach Jahren der Beschäftigung mit Ästhetik und mit der Geschichte des Gartens bekannt vorkam: Als schön gilt, was ordentlich und rein ist, also ein aufgeräumter Garten, in dem es keine störenden, weil unerwünschten Pflanzen oder Insekten gibt. Damit hängt der Moderator einer noch immer dominanten Schönheitsvorstellung an, die wir auf die Natur projizieren. Folglich war er taub für die zentrale Aussage, dass es nicht mit ein paar Anleitungen getan ist, wenn wir die Natur bewahren wollen, sondern wir dafür zuerst unsere Wahrnehmungsmuster hinterfragen und die Welt mit anderen Augen sehen müssen. Etwas ist nicht einfach schön oder hässlich, sondern Schönheit – ein immer auch politischer Ausdruck – thematisiert und bewertet unser Verhältnis zu einem Gegenstand. Und an diesem Verhältnis entscheidet sich, welches Leben in Zukunft auf diesem Planeten noch möglich sein wird.

Als ich begann, mich für unseren Garten, seine Kreaturen und deren Beziehungen untereinander zu interessieren, wurde mir etwas auf ganz neue Weise klar: Fragen der philosophischen Ästhetik und der Sprache, die mich als Literatur- und Kulturwissenschaftlerin umtreiben, sind auch ganz konkret für mein Leben relevant. Ich bemerkte, wie mein kulturell geprägtes Empfinden und meine Sprache sich darauf auswirken, wie ich den Garten gestalte und wie ich dadurch, positiv oder negativ, in die Kreisläufe der Natur eingreife. Allerdings übersteigt es bisweilen mein Vorstellungsvermögen, die Zusammenhänge von Klimawandel, Biodiversitätsverlust und menschlichem Verhalten bis in die kleinsten Alltagshandlungen zu durchdringen. Ich weiss aber, dass ich bereits mit der Entscheidung gegen eine Thuja und für einen Gemeinen Schneeball dazu beitragen kann, die drastische Abnahme der Artenvielfalt zu bremsen. Beim Gärtnern kann sich eine Veränderung unserer Wahrnehmung vollziehen, die weit über die Kraft von Argumenten hinausgeht, weil sie in der Erfahrung wurzelt. Gegen das Gefühl von Ohnmacht und die allzu menschliche Tendenz, Probleme zu verdrängen, wenn sie zu gross sind, ist der Garten der Ort, an dem ich das Grosse im Kleinen erfahre, indem ich plötzlich Blumen sehe, wo vor Kurzem noch Laub war und wo ich beobachte, wie die ersten Hummeln und Wildbienen Nahrung finden. Einfache Überlegungen, etwa wo Insekten Unterschlupf finden und wie sie den Winter überleben, leisten in der Mikroperspektive einen Beitrag zur drängenden, übergeordneten Frage: Wie können wir die Geschichte der Dominanz durch eine Geschichte der – menschlichen und nichtmenschlichen – Kollaboration ablösen?

Metaphorik des Ungeziefers
Mein erster Gedanke beim Hören des Radiointerviews war, dass im Namen der Schönheit schon viele Verbrechen begangen wurden. «Schönheit» bedingt eine Hierarchie, allzu oft auch eine des Lebens. Ich dachte an den Schweizer Theologen Johann Caspar Lavater (1741–1801) und seine Stufenfolge vom Frosch zum Apoll vom Belvedere, in welcher der Frosch als das niedrigste Wesen dem Schönheitsideal des antiken Gottes gegenübergestellt wird. Ich dachte an ähnliche Darstellungen des niederländischen Arztes und Botanikers Pieter Camper (1722–1789), bei dem die Folge vom Affen über die Kalmücken (ein westmongolisches Volk) ebenfalls bis hin zum Apoll vom Belvedere führt. Und ich dachte daran, wie solche Darstellungen von den Rassentheoretikern des 19. Jahrhunderts und im Nationalsozialismus rege gebraucht wurden, um das sogenannte griechische Profil als Kennzeichen der «arischen Rasse» zu etablieren und alles davon Abweichende zu eliminieren.

Die Abwertung von Leben ist immer auch an eine Politik der Sprache gebunden. Im Anschluss an Victor Klemperers Analyse der nationalsozialistischen Sprache in seinem «Notizbuch eines Philologen» (1947) wurde vielfach darauf hingewiesen, wie Jüd*innen und andere Verfolgte durchgehend als «Ungeziefer» und «Parasiten» bezeichnet wurden, um die Massenvernichtung einer legitimen «Schädlingsbekämpfung» gleichzusetzen. Um den Wertvorstellungen, die wir mit bestimmten Wörtern implizit verbinden – etwa wenn wir Insekten oder den (auch so ein Wort) «verdorrten» Stängeln, in denen ihre Eier wachsen, Schönheit absprechen –, auf die Spur zu kommen, müssen wir also ergründen, wie diese Wörter zu Metaphern wurden und dadurch von einem Kontext in andere gelangten. Wie also kommt es, dass Wörter wie «Unkraut» oder «Ungeziefer» die Schönheitsvorstellungen des Radiomoderators herausfordern? Ich konsultiere mein Lieblingswörterbuch, das der Brüder Grimm: «Unkraut» bezeichnet das, was für den Gemüsegarten nicht nützlich, beziehungsweise für den Lustgarten nicht schön ist, weil es die zu kultivierenden Pflanzen verdrängt. Bald aber bezeichnete «Unkraut» auch «böse und der menschlichen Gesellschaft schädliche Menschen» und wurde insbesondere auch für «Mädchen und Frauen» gebraucht. Das Gleiche gilt für das Wort «Ungeziefer»: Ursprünglich für jene Tierarten vorgesehen, die sich nicht als Opfergabe eigneten, bezeichnete es bald allgemein «unreines und verunreinigendes, ekelhaftes, widriges, schädliches, verderbliches» Getier und sodann auch alle Menschen, die man als solche benennen wollte. Sehr früh entstand so die Grundlage für einen weit verbreiteten antisemitischen Topos.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich viel getan, gerade was die Kritik von Schönheitsnormen angeht. Auch wenn sexistische und rassistische Diskriminierungen leider weiterhin täglich geschehen, so haben doch die emanzipatorischen Bewegungen dazu geführt, dass Diversität in unserer Gesellschaft zunehmend zum Thema wird. Und doch haben wir nicht damit aufgehört, Leben zu hierarchisieren: Nur weil wir noch immer zwischen schützenswertem und weniger schützenswertem Leben unterscheiden, sprechen wir weiterhin von «Ungeziefer» und «Unkraut» in unserem Garten, auch wenn wir uns sonst für tolerante Menschen halten. Warum aber achten wir in unseren Rede- und Verhaltensweisen so wenig auf die nichtmenschlichen Lebewesen um uns herum? Wieso sind wir hier so blind?

Die Natur-Kultur-Frage
Eine Lösung des Problems schlug jüngst in einem Vortrag Dave Goulson vor, Biologe an der University of Sussex und bekannt für seinen Einsatz zum Schutz von Hummeln: «Sie wollen das Unkraut in Ihrem Garten auf einen Schlag loswerden? Hören Sie auf, es ‹Unkraut› zu nennen.» Damit meint er vor allem: Hören Sie auf, es als Unkraut zu behandeln, denn mit einer anderen Handlungsweise ist auch eine andere Erfahrung verbunden. Goulson weist darauf hin, wie absurd unser Aufwand an Zeit und Geld ist, den wir dazu benötigen, um ein kleines Stück Land unseren Vorstellungen von Schönheit anzupassen. Wir kaufen gewisse Pflanzen (oft solche, die nicht einheimisch sind), reissen andere Pflanzen aus, um für sie Platz zu schaffen, und «pflegen» diese sodann mit Pestiziden und Dünger. Stattdessen könnten wir, so Goulson, einen Gin trinken, uns zurücklehnen und einfach schauen, was so wächst. Es ist die gleiche Forderung wie jene des Experten am Radio: Entspannt euch. Lasst mal gut sein. Beobachtet das Leben, statt es zu bekämpfen.

Goulsons Forderung ist wichtig, auch weil die Einsicht wertvoll ist, dass nicht alles besser wird, wenn wir versuchen, es zu kontrollieren. Denn es geht bei der Diskussion um den schönen Garten auch um die grundsätzliche Frage: Ist ein Garten Kultur? Natur? Oder beides? Er ist traditionellerweise ein Stück Land, das wir, meistens durch einen Zaun, von der restlichen Natur abtrennen. So bleibt er zwar biologisch Teil der Natur, er ist aber unser Besitz und dient unseren Zwecken – sei es, um uns mit Nahrung zu versorgen, sei es, um unsere Sehnsucht nach Schönheit zu befriedigen. Am Garten zeigt sich, dass die Abgrenzung der Kultur von der Natur vor allem dazu dient, sie zu dominieren.

Goulsons Plädoyer dafür, mit der Grenzziehung zwischen Natur und Garten etwas weniger strikt zu sein, ist jedoch keineswegs neu. Adalbert Stifter (1805–1868) lässt in seiner Erzählung «Der Hochwald» den alten Gregor sagen: «[D]er Wald ist auch schön und mich dünkt manchmal, als sei er noch schöner als die schönen Gärten und Felder, welche die Menschen machen, weil er auch ein Garten ist, aber ein Garten eines reichen und grossen Herrn, der ihn durch tausend Diener bestellen lässt; in ihm ist gar kein Unkraut, weil der Herr jedes Kräutlein liebet und schätzt – er braucht auch ein jedes für seine vielen tausend Gäste, deren manche lecker sind und ganz Besonderes verlangen.» Man muss mit Stifters religiöser Stossrichtung nicht mitgehen, um das Entscheidende zu sehen: «Unkraut» ist die Erfindung einer sehr eingeschränkten menschlichen Sichtweise, während aus einer übergeordneten Perspektive alles gleichwertig erscheint, da viel mehr Lebewesen teilhaben. Der Wald ist nicht nur im Märchen der Ort für die sonst unerwünschten Kräutlein und Gäste.

Problem Kirschlorbeer
Während bei Stifter Wald und Garten keinen Widerspruch darstellen, werden heute die Grenzen zwischen Natur und Kultur umso rigider verteidigt, je prekärer sie werden. Sinnvoller wäre es, den Blick darauf zu richten, dass es, wie es die Wissenschaftshistorikerin Donna Haraway so treffend formuliert hat, «viel Verkehr» gibt auf der Brücke zwischen Natur und Kultur. Denn wie vergeblich es ist, den Garten mit Zäunen und Mauern als Bereich der Kultur von einer angeblichen Natur da draussen – wie etwa dem Wald – abgrenzen zu wollen, zeigt das Beispiel des Kirschlorbeers. Er ist in sehr vielen Schweizer Gärten zu sehen und sorgt mit seinem immergrünen Laub als Hecke zugeschnitten dafür, dass ja kein Blick hindurch möglich ist.

Nun bleibt der Kirschlorbeer aber nicht dort, wo er sollte, denn er ist ein invasiver Neophyt. Er breitet sich beispielsweise über Gartenabfälle in die «Natur» aus und verändert nicht nur das Landschaftsbild, sondern vor allem auch den Zusammenhang der Lebewesen in diesen Gegenden. Als ich zuletzt im Tessin durch die Schluchten und entlang der Hänge spazierte, sah ich, wie sich der Kirschlorbeer – zusammen mit der Palme übrigens, die ein ähnliches Problem darstellt – rasant ausbreitet und erahnte, wie der Wald in ein paar Jahren aussehen könnte: Durch das immergrüne, sehr dichte Laub dieser Bäume und Büsche dringt fast kein Licht mehr bis zum Boden und verunmöglicht das Nachwachsen von anderen Pflanzen. Was als «Zier» begonnen hat, wird also zu «Unkraut», das einheimische Pflanzen konkurrenziert und zu einer massiven Abnahme der Biodiversität führt, weil die spezialisierten Arten, die Gäste mit besonderem Geschmack, wie Stifter sie nannte, keine Nahrung mehr finden. Der Kirschlorbeer zeigt, dass der Garten Teil der Natur bleibt und in ihm die gleichen Prozesse von Ausbreitung und Verdrängung, Konkurrenz und Kollaboration ablaufen wie überall, wo Leben ist.

Umgekehrt vergessen wir, wenn wir in der Schweiz von «Natur» sprechen und eine «Wildnis» meinen, die fast nirgendwo mehr existiert, dass ebendiese «Natur» durch menschliche Geschichte geprägt ist. Die Geschichte der unberührten Natur ist ein Narrativ, das in der jüngeren Geschichte gerade auch in der Schweiz immer wieder politisch instrumentalisiert wurde. Dabei ist die Vielfalt der Arten, die in unserer «Natur» Platz finden (könnten), zu einem wesentlichen Teil das Resultat dieses Kulturalisierungsprozesses. Nur haben wir es damit etwas übertrieben, weil wir auch den Wald nicht mehr als Ort ansehen, wo alle sonst unwillkommenen Kräutlein und Gäste Platz haben, sondern auch er hat unserer Logik von Wirtschaftlichkeit auf der einen und Erholung auf der anderen Seite zu entsprechen. Sehr viele Wälder des Mittellandes wirken deshalb so «schön» aufgeräumt, weil der Wald gar nie in die Zerfallsphase kommt. Das Holz wird genutzt, bevor es zu «Totholz» – wieder so ein Ausdruck – werden kann. Und wegen des vermehrten Einsatzes von Holzschnitzelheizungen, eigentlich eine gute Alternative zu Öl, wird immer mehr auch kleineres Holz wegtransportiert. Sollte doch einmal ein Asthaufen übrig geblieben sein, so bedient man sich daran, um die Würste an den Feuerstellen zu grillieren. Was in dieser auf den Menschen zentrierten Logik vernachlässigt wird: Viele Arten sind auf stehendes oder liegendes Totholz unterschiedlicher Gestalt und Länge angewiesen. Bestimmte Käferarten brauchen ein mindestens zwei Meter langes Stück Totholz, damit die Larve ihren Entwicklungsweg durchfressen und sich in einen Käfer verwandeln kann. Denn diese Käferlarven können keine Kurven, sie fressen einfach geradeaus, und wenn das Holz zu früh endet, dann fallen sie in den Abgrund. Tot oder lebendig ist auch hier eine Frage der Perspektive. Was für uns Vermoderung heisst, bedeutet für die Käfer Leben.

«Wir alle sind Flechten»
Seit dem letzten grossen Schneeeinbruch liegen bei uns hinter dem Haus mehrere ziemlich grosse abgebrochene Äste eines mit Efeu umrankten Ahorns quer über den Haselstauden. Die Vögel mögen das; sie können sich darin verstecken und gelangen so einfacher an die Futterhäuschen, die wir – trotz Verbot durch die Hausordnung – aufgehängt haben. Langsam lerne ich sie und ihre Gewohnheiten kennen: Der Eichelhäher isst die Nüsse, die wir eigentlich für die Eichhörnchen vorgesehen hatten. Die Buchfinken picken sich aus dem Vogelfutter die Sonnenblumenkerne heraus, die ihnen offenbar am besten schmecken. Die Kohlmeisen sind in der Stadt weniger gelb. Die Blaumeisen holen aus dem Fensterrahmen Insekten und schauen, ob sie dort brüten können. In der Umgebung sammeln wir die anderen abgebrochenen Äste ein, bevor die Gärtner*innen kommen und sie abtransportieren. Wir legen sie aufeinander zu Haufen, wo sie neben Nahrung für Insekten auch ein Versteck für grössere Tiere bilden.

Wenn der Wald nicht mehr wie bei Stifter der bessere Garten ist, muss vielleicht der Garten ein Stück weit zu einem besseren Wald werden. Er ist ein Ort der zahllosen Beziehungen zwischen Tieren und Pflanzen – und Pilzen, wie Merlin Sheldrake hinzufügen würde, der ein faszinierendes Buch über «Verwobenes Leben» (2020) geschrieben hat. Seit ich darin gelesen habe, wie sehr die für uns unsichtbaren Pilznetzwerke mit Pflanzen, Tieren, aber auch uns Menschen in Verbindung stehen, geht mir ein von ihm zitierter Satz nicht mehr aus dem Kopf: «Wir alle sind Flechten.» Flechten sind eine Symbiose von Pilzen und Algen (und weiteren Lebewesen), und so steht dieser Satz für eine Auffassung des Lebens nicht in Konkurrenz, sondern basierend auf Zusammenarbeit. Wenn wir schon den Garten der menschlichen Sphäre zurechnen und ihn mit unseren Schönheitsidealen messen, dann stellt sich mir auch die Frage, mit welchem Selbstverständnis als Menschen wir dies tun. Wie können wir einen «herausgeputzten» Garten wollen, wenn wir doch selbst aus vielfältigen Beziehungen zu Pilzen, Bakterien, Viren etc. bestehen?

Unter dem Deckmantel des Schönen projizieren wir ein Bild von uns auf den Garten, was letztlich nur dazu dient, uns vom Rest der Natur abzugrenzen und dem Menschen einen Sonderstatus zu bewahren. Dabei würde sich so viel auch am Bild von uns selbst ändern, wenn wir die Aufmerksamkeit auf die Kreisläufe richten würden, von denen wir ein Teil sind: Wenn «Unkraut» gejätet oder ein Pestizid eingesetzt wird, dann hat das auch für viele weitere Lebewesen negative Konsequenzen. Die Abwärtsspirale kann aber auch umgedreht werden, denn es gilt der Umkehrschluss, dass die Förderung einer Art auch weiteren Arten hilft. In diese Dynamik ist der Mensch miteinbezogen, mehrere Studien haben darauf hingewiesen, dass die Art und Weise, wie man den eigenen Garten gestaltet, von der Nachbarschaft abhängt. Wenn kein Kirschlorbeer die Sicht versperrt, werden die Nachbar*innen beobachten, wie Sie jetzt im Frühling Kleinstrukturen für Vögel und Sandlinsen für Bienen bauen, Teiche anlegen und einheimische Sträucher, Stauden und Blumen pflanzen – und sie werden es vielleicht auch für sich in Erwägung ziehen.

Wenn ich sehe, wie die Amseln die Regenwürmer, von denen es in der Schweiz rund vierzig verschiedene Arten gibt, unter dem Laub hervorziehen, das wir liegengelassen haben, oder wenn ich ein Sommergoldhähnchen entdecke, von dem ich vor nicht langer Zeit nicht einmal wusste, dass es existiert, dann wird mir bewusst, wie eingeschränkt meine Wahrnehmung war und immer noch ist. Ich versuche, den Garten nicht zu beurteilen, sondern zu beobachten und von seinen Veränderungen zu lernen. Wenn ich das, was da wächst, als «schön» bezeichne, dann mag das mein persönliches Empfinden sein. Ich verstehe es aber auch als eine politische Handlung, die die Ästhetik an eine Ethik des Lebendigen knüpft.

CLAUDIA KELLER ist Oberassistentin am Deutschen Seminar der Universität Zürich und Mitglied der Forschungsgruppe «Global Change and Biodiversity».


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