Essay
Kleines Mausohr, du sollst leben
Erschienen in: Das Magazin
Mai 2024

Download
des Original-
artikels


Kleines Mausohr, du sollst leben

Wollen wir die vielfältige Natur in der Schweiz retten, dann müssen wir sie wieder kennen und lieben lernen. Tier für Tier, Pflanze für Pflanze. Namen für Namen.

Kürzlich erzählte mir eine Freundin eine schreckliche Geschichte: Als ihr Freund in der Primarschule war, erhielt die Klasse den Auftrag, übers Wochenende einen Frosch zu fangen und ihn mitzubringen. Er fing einen Frosch, hielt ihn bei sich zu Hause, fütterte ihn, spielte mit ihm und freute sich darauf, ihn am Montag den anderen zu zeigen. An besagtem Tag kamen die Kinder begeistert in die Schule. Die Freude währte aber nur so lange, bis ihnen der zweite Teil der Aufgabe erklärt wurde: Sie mussten den Frosch bei lebendigem Leib aufschneiden, um das schlagende Herz zu sehen. So sollten sie Anatomie lernen. Die Kinder, die ihre Hausaufgaben vergessen und keinen Frosch mitgebracht hatten, wurden auch nicht verschont. Sie bekamen einen Hasen in die Hand gedrückt. 

Der Freund meiner Freundin nannte seinen Frosch liebevoll Ranasita, kleines Fröschchen, und so war er von einem Studienobjekt zu einem Gefährten geworden. Die Beziehung, die er zu dem Tier aufgebaut hatte, machte das Aufschneiden umso perfider, ist aber auch der Grund, aus dem die Übung ihr pädagogisches Ziel verfehlte: Er lernte nichts über Anatomie, sondern hat seither ein besonders enges Verhältnis zu Tieren, ist zum Tierschützer geworden. Man kann sich nur vordergründig damit beruhigen, dass sich diese Geschichte in einem weit entfernten Land in einer vergangenen Zeit zugetragen hat. Denn unser Verhältnis den Tieren gegenüber im Schweizer Hier und Jetzt ist genauso kaputt wie überall. 

Dass wir beim Gedanken schaudern, einen Frosch lebendig aufzuschneiden, nicht aber, wenn wir ein Schnitzel in der Pfanne braten, hat damit zu tun, dass wir das Schnitzel nicht mit dem süssen Kalb auf der Weide verbinden, das wir bei der letzten Wanderung gesehen haben. Die grossindustrielle Herstellung von Fleisch ist nicht weniger grausam als der Tod des Frosches, wir nehmen diese Grausamkeit einfach nicht wahr. Noch ausgeprägter ist dieser Mechanismus des Ausblendens, wenn es um das geht, was euphemistisch als «Artensterben» bezeichnet wird: Das Wort suggeriert, das sechste grosse Massensterben, das wir aktuell erleben, sei ein natürlicher Vorgang. Es macht es uns leicht, davon zu abstrahieren, dass es etwas mit uns und unseren täglichen Handlungen zu tun hat. 

Das Schweizer Sterben 

Auf der ganzen Welt sterben täglich hundert bis hundertfünfzig Arten aus. Jede Art kommt irgendwann einmal an ihr Ende, aber aufgrund des menschlichen Einflusses geschieht das nach Schätzungen der Wissenschaft bis zu hundertmal schneller, als es im normalen evolutionären Prozess der Fall wäre. Wenn ich, als Literaturwissenschaftlerin, die sich mit Biodiversität beschäftigt, solche Zahlen in Gesprächen mit meinen mehr an Kultur als an Natur interessierten Bekannten nenne, dann tendiert deren Reaktion noch stärker gegen null als, sagen wir, bei einer Aufzählung der Zutaten für einen Cheesecake. 

Als Selbstschutz ist diese Indifferenz verständlich: Kriegs-, Hunger- und Drogentote – und mit der Erderwärmung zunehmend auch Opfer von Hitze oder Überschwemmungen. Ständig werden wir mit Zahlen konfrontiert, die jede für sich Grund genug wäre, depressiv zu werden. In der medialen Überbietungslogik haben wir längst gelernt, solche Zahlen mit einem Seufzer hinzunehmen und nicht an uns heranzulassen. 

Aber versuchen Sie mal, hundertfünfzig Arten aus dem Stegreif aufzuzählen. Wie viele Vögel schaffen Sie? Wie viele Schmetterlinge? Wie viele Pilze? Ich erinnere mich, wie stolz ich war, als ich zum ersten Mal hundert Vogelarten gesehen hatte – bei jeder mir zuvor unbekannten Art trinke ich einen Schluck Schnaps, sozusagen, um auf unsere Bekanntschaft anzustossen. 

Das Problem bei den Zahlen zum Artensterben ist nicht nur ihre Grösse. Sie sind auch ungenau und abstrakt. Niemand kann die hundert Arten aufzählen, die gestern ausgestorben sind. Denn es ist nicht einmal bekannt, wie viele Arten es überhaupt auf der Erde gibt: Die Schätzungen bewegen sich zwischen fünf und hundert Millionen; eine oft genannte Zahl ist 8,7 Millionen. Von ca. 1,5 Millionen dokumentierten Tierarten sind mehr als 1 Million Insektenarten, wobei jedoch bei 99 Prozent nicht wissenschaftlich untersucht ist, ob sie gefährdet sind oder nicht. Sowohl im grossen Ganzen als auch im Detail gilt: Wir wissen vor allem, dass wir nichts wissen. Die allermeisten Arten verlieren wir, ohne sie gekannt zu haben. 

In der Schweiz haben wir generell oft das Gefühl, dass bestimmte Probleme mehr die anderen als uns selbst betreffen – und auch beim Artensterben ist es so. Die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung glaubt, die Biodiversität sei in unserem Land in einem guten bis sehr guten Zustand, aber dieser Schein trügt: Mindestens 642 Arten werden auf den Roten Listen auf der zweithöchsten von sechs Gefahrenstufen geführt und als «vom Aussterben bedroht» klassifiziert, das heisst, sie sind aktuell verschollen oder kurz davor, auszusterben. Genau sagen kann man das auch deswegen nicht, weil einige der existierenden Roten Listen fast dreissig Jahre alt sind. 

Und dabei sind die ausgestorbenen Arten nur die Spitze des Eisbergs – sie weisen auf eine noch viel grössere Gefahr hin: auf den Zusammenbruch der Vielfalt durch die starke Reduktion und Fragmentierung bestehender Populationen. Im Vergleich mit unseren direkten Nachbarstaaten ist der Anteil gefährdeter Arten über alle Organismengruppen hinweg in der Schweiz am höchsten – vor allem aufgrund der schlechten ökologischen Qualität und der Fragmentierung vieler Lebensräume. Wir wollen nicht sehen, was wir schon morgen nicht mehr sehen können.

Bürokratisierte Natur 

Der Begriff «Biodiversität» wurde 1986 als politisches Schlagwort geprägt, mit dem auf die Bedeutung der Vielfalt der Arten, der genetischen Vielfalt innerhalb der Arten und der Vielfalt der Ökosysteme auf unserem Planeten aufmerksam gemacht werden sollte. Das Wort war wie eine neue Brille, die sichtbar machte, dass es nicht nur um den Schutz einzelner Arten wie des Panda oder des Eisbären geht, sondern dass fast alle Lebensräume und das komplexe Netz des Lebens, in das auch wir Menschen eingebunden sind, gefährdet sind. Aber wie die Zahlen rund um das Artensterben ist auch das Wort «Biodiversität» selbst ziemlich abstrakt. 

Und Abstraktionen, sowohl von Zahlen als auch von Konzepten, können politisch missbraucht werden. Wie einfach dies ist, wurde mir klar, als Bundesrat Albert Rösti im Juni 2023 sagte, die Biodiversitätsinitiative sei zu extrem und der Ständerat solle auf seinen Gegenvorschlag eintreten. Denn es handle sich dabei um einen «Gegenvorschlag, der eine Zunahme der Biodiversität zulässt, aber in einem verhältnismässigen Rahmen.» 

In dieser absurden Formulierung wird die Vielfalt des Lebens zu einem Faktor unter vielen, den man wie an einem Mischpult mit einem Schieberegler beliebig nach oben oder unten drehen kann, um den richtigen Mix zu erhalten. Anstatt Biodiversität als Lebensgrundlage anzuerkennen, spielt man sie gegen Klimaschutz, Energiesicherheit und Lebensmittelproduktion aus. 

Röstis Formulierung ist ein Lehrstück über die Bürokratisierung der Natur: All das Leben – der Wildbienen, Farne, Regenwürmer -, das im Wort Biodiversität enthalten ist, verschwindet aus dieser technokratischen Sprache, die so lange mit entleerten Begriffen jongliert, bis man vergisst, worum es eigentlich geht. Gibt es ein Gegenmittel gegen diese Verdinglichung und gegen ihre ganz eigene Form der Grausamkeit? Vielleicht hilft die Erinnerung daran, was den kleinen Jungen, der den Frosch aufschneiden musste, zum Tierschützer werden liess: Trauer und Wut über die Gefährdung des Lebens um ihn herum, aber auch eine spezifische Freude über die Vielfalt des Lebens. Ich nenne sie die «ökologische Freude».

Namenloses Grün 

Die Frage, wie man Abstraktion durch Empathie ersetzen und Zahlen mit Leben füllen kann, hat mich viele Jahre umgetrieben. Eines Tages aber führt mich der Morgenkaffee auf dem Sofa näher an eine Antwort heran. Mit meinem Partner, einem Ornithologen, betrachte ich draussen vor dem Fenster ein kleines, gelb-braunes Vögelchen. Wir beobachten, wie es, von Ast zu Ast hüpfend, jedes Blatt von allen Seiten anschaut. «Wie rastlos es ist», stelle ich fest, und mein Partner antwortet: «Ja, es ist doch hungrig! Vielleicht ist es eine Vogelmama, die Futter für ihre Kleinen sucht.» Er macht mich darauf aufmerksam, dass der Vogel immer wieder mit dem Schwanz nach unten schlägteine Bewegung, die charakteristisch für diese Art ist. Und auf einmal kann ich das, was ich sehe, mit einem Namen verknüpfen: dem Zilpzalp. 

Die Bedeutung von Namen für die Herstellung einer Beziehung war mir als Literaturwissenschaftlerin nicht zuletzt aus Büchern bekannt: Die erste Handlung Adams im Garten Eden war, so erzählt die Genesis, allen Tieren im Himmel und auf der Erde einen Namen zu geben. Ich hingegen nahm die Natur jedoch lange als eine namenlose Kulisse wahr. Ich wusste, dass es Meisen gibt. Aber wie unterscheidet sich eigentlich der Klang einer Kohlmeise von dem einer Blaumeise, einer Sumpfmeise, einer Schwanzmeise, einer Haubenmeise? Um die unterschiedlichen Gesänge auseinanderhalten zu können, versuche ich es mit Eselsbrücken: Die Töne der Tannenmeise klingen wie die einer Kohlmeise, aber verbundener, so wie wenn man mit einem Strich einen Tannenbaum malt. 

Mit viel Nachhilfe und Bestimmungsapps lerne ich langsam kennen, was mich umgibt: Den Fliegenhaft, mit seinem seltsam geschwungenen Körper, der kürzlich am Fenster sass. Den Graugelben Breitflügelspanner, der beim Kochen hereingeflogen kam. Die Hufeisen-Azurjungfer und die Frühe Adonislibelle, die als türkis und rot leuchtende Linien über dem Teich schwirren. Die Baumhummel mit ihrem dunkelbraunen Rücken und dem weissen Hinterteil, die Pollen auf einer Rose sammelt, nach hinten fällt und auf dem Rücken zappelt, bis sie sich wieder aufrichten kann. Und die Amsel, die eine so besondere Strophe singt, dass ich sie als Individuum wiedererkenne. 

Mir geht es dabei, wie es die britische Autorin Helen Macdonald in ihrem Buch «Abendflüge» beschreibt: «Mit dem Identifizieren ist ein ungeheures intellektuelles Vergnügen verbunden; jedes Mal, wenn man eine neue Tieroder Pflanzenspezies erkannt hat, wird die Natur zu einem komplexeren und bemerkenswerteren Ort, und aus dem verschwommenen Hintergrund namenlosen Graus und Grüns tritt eine verschachtelte Vielfalt hervor.» Meine Umgebung verwandelt sich langsam von einer schönen, aber leblosen Kulisse zu einem Ort, an dem es viel zu entdecken gibt. Das Kennenlernen neuer Arten ist für mich aber nicht nur ein intellektuelles Vergnügen, sondern vor allem ein emotionales: Ich lerne, wo die Waldkäuze im Wald wohnen, höre ihr Balzen und wie ihre Jungen um Futter betteln. Manchmal beobachten sie mich dabei, wie ich sie beobachte. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich sie höre, und vermisse sie, wenn sie sich während eines Abendspaziergangs einmal nicht bemerkbar machen. 

Unabhängig davon, ob ich die Arten tatsächlich alle sehe, entwickelt sich auch eine Freude an der überbordenden Fülle der Namen der verschiedenen Arten: 

Lachsblättriger Schwärztäubling, Hochgerippte Becherlorchel, Eselsöhrling, Flattrige Fichtenkoralle, Wohlriechender Korkstacheling, Gallertiger Zitterzahn, Elfenbeinschneckling, Gesägtblättriger Zärtling, StinkkohlBlasssporrübling, Gemeiner Gurkenschnitzling.

Mit jeder Art, die ich kennen lerne, wird die Zahl der hundert bis hundertfünfzig täglich aussterbenden Arten plastischer. Die Namen, Bilder, Klänge, Gerüche reichern das Wort «Biodiversität» an, füllen es mit Leben. Ich habe eine mögliche Antwort auf die Frage nach dem Gegengift zur Gleichgültigkeit gefunden: Der Blick auf das Einzelne und die Fähigkeit, Pflanzen und Tieren einen Namen zuordnen zu können, sind Quellen einer mir zuvor unbekannten, einer ökologischen Freude.

Ökologische Trauer 

Seit ich schaue, was da ist, sehe ich auch mehr, was nicht da ist. Ich höre, wie die auf der Roten Liste als «verletzlich» eingestuften Erdkröten, für deren Schutz die Schweiz eine «sehr hohe» Verantwortung hat, über Wochen hinweg jede Nacht im Teich rufen, weil kein Weibchen kommt. Wie lange dauert es, bis sie aufgeben? Ich fahre durch die Agglomeration und sehe lauter «Gärten des Grauens», wie sie der Biologe Ulf Soltau treffend benannt hat. In diesen Gärten gibt es Schottersteine, einen kurz gemähten Rasen und ein Trampolin, umschirmt von einer blickdichten Kirschlorbeerhecke. Gemeiner Natternkopf, Wilde Karden, Gewöhnlicher Arznei-Baldrian, Wolliger Schneeball, Schwarzdorn – diese Namen sucht man hier vergeblich. 

Bei solchen Streifzügen erlischt die Freude, und es steigen zwei andere Gefühle in mir hoch: ökologische Langeweile (ein Ausdruck des Umweltschützers George Monbiot) und Trauer. «Wir trauern nur um das, was wir kennen.» Dieser Satz des Ökologen und Philosophen Aldo Leopold trifft für mich einen zentralen Punkt. Mit der zunehmenden Freude merke ich auch mehr, was auf dem Spiel steht. Meine ökologische Freude und meine ökologische Trauer wachsen aneinander. 

Diese Trauer zu spüren und zuzulassen, ist keineswegs selbstverständlich. Die ebenso gefeierte wie umstrittene Philosophin Judith Butler, die sich jüngst öfters auf problematische Weise zu Israel und Gaza äussert, stellt in ihrem Buch «Gefährdetes Leben» fest, dass es eine Hierarchie der Trauer gibt. Trauern ist ein persönlicher, individueller, aber auch ein gesellschaftlicher, kollektiver Prozess – und die Formen der Trauer werden öffentlich und politisch hergestellt. Stirbt eine berühmte Person, reiht sich Nachruf an Nachruf. Die Opioidtoten, die im Mittelmeer Ertrunkenen, die Hitzetoten sie sind dagegen kaum je eine Notiz wert. Diese Leben bezeichnet Butler als nicht «betrauerbar». Durch das Fehlen der Trauerwerden sie ein zweites Mal ausgelöscht. Ihr Leben war wortwörtlich «nicht der Rede wert». Das Fatale daran: Die Leben der Menschen, deren Tode nicht betrauerbar sind, sind weniger geschützt. 

Butlers Gedanken zur Hierarchie der Trauer lassen sich auf nichtmenschliche Lebewesen ausweiten. Wenn es sich nicht gerade um das eigene Haustier oder den Lieblingsbaum der Kindheit handelt, dann geht uns dieses Sterben nichts an. Nicht bei dem einzelnen toten Vogel, an dem man achtlos vorbeigeht, und noch weniger bei ganzen Populationen: Wachtelkönige, Feldlerchen und Braunkehlchen sind an vielen Orten in der Schweiz lokal ausgestorben. Der Verlust extensiv genutzter, blütenreicher Wiesen und Weiden durch die intensive Landwirtschaft, zu frühes und häufiges Mähen sowie die Verdichtung der Vegetation durch Düngung führen dazu, dass Wiesenbrüter kaum mehr erfolgreich ihre Jungen aufziehen können. Und manchmal werden ganze Vogelfamilien «vermäht», wie es unsentimental in der Fachsprache heisst, wenn eine Mähmaschine ein Nest samt seinen Bewohnern zerstückelt. Obwohl sich durch diesen Verlust unsere Umgebung visuell und klanglich stark verändert hat in den letzten Jahrzehnten, sind diese Tode kaum der Rede wert, und es gibt keine Formen der Trauer, nicht individuell, und schon gar nicht kollektiv. 

Trauer zuzulassen ist ungleich schwieriger als Freude. Denn Trauern ist, Butler zufolge, immer auch ein Risiko: Sie macht uns verletzlich. Wenn wir trauern, wird sichtbar, wie sehr unsere Identität von Beziehungen zu anderen bestimmt ist. Trauer bedeutet zu akzeptieren, dass wir durch einen Verlust eine Veränderung durchmachen, deren Ergebnis wir nicht im Voraus absehen können. Verständlicherweise wollen wir uns nicht immer auf einen so unberechenbaren Prozess einlassen. Die Trauer über das Massensterben, das wir gerade erleben, würde uns vielleicht ganz grundsätzlich verändern: Anstatt, wie es aktuell oft der Fall ist, nach «Lösungen» zu suchen, die uns ermöglichen, unser bisheriges Leben möglichst gleich weiterzuführen, wären wir nach diesem Prozess vielleicht gar nicht mehr die Person, die einfach so weitermachen möchte. Sich auf die Trauer einzulassen, würde bedeuten, zu fragen: Wer werden wir sein? 

Eine solche Frage zu stellen, bedeutet einen Kontrollverlust. Durch die Trauer wird das Gefühl der eigenen Ohnmacht zunächst einmal verstärkt – deshalb hat sie auch so einen schlechten Ruf. Gerade in der Auseinandersetzung mit ökologischen Krisen höre ich oft: Trauer können wir gar nicht gebrauchen, sie paralysiert und hindert uns daran, aktiv zu sein. Butler jedoch stellt die Gegenfrage: Ist es nicht die Verwundbarkeit, die uns dazu bringt, Verantwortung für das Leben anderer wahrzunehmen? 

Könnte aus der Ohnmacht gegenüber dem lokalen und globalen Aussterben vielleicht auch der Mut folgen, sich mit dem zu konfrontieren, was ein Planet jenseits der ökologischen Belastungsgrenzen wirklich bedeutet? Und würden wir, wenn die Tode der Vögel betrauerbar, wenn sie der Rede wert wären, möglicherweise ein paar Dinge anders machen -und diese Leben besser schützen? Etwa, indem wir versuchten, sie vor Genickbruch oder den Hirnblutungen zu bewahren, an denen sie in der Schweiz zu Hunderttausenden sterben, wenn sie in die grossen Fensterscheiben fliegen, die zum Standard jedes Neubaus gehören?

Chrottepösche 

«Dass eine Art den Tod einer anderen beklagt, ist etwas Neues unter der Sonne», auch dieser Satz des Ökologen Aldo Leopold leuchtet mir sehr ein. Wir können nicht davon ausgehen, dass sich die Trauer über den Tod von Tieren oder Pflanzen von allein einstellt. Eine Möglichkeit, Betrauerbarkeit herzustellen, ist Butler zufolge das Benennen. Jemandem oder etwas einen Namen zu geben und den Namen aufzusagen -das gibt ihm eine Bedeutung und einen Wert, es stellt eine Verbindung her, aus der eine Beziehung entstehen kann. 

Wie aber sollen wir die Namen nennen, wenn wir auch sie immer mehr verlieren? Dass wir mit der Artenvielf alt auch eine Sprachvielfalt verlieren, merke ich, als ich eines Tages «Löwenzahn» statt, wie sonst immer, «Chrottepösche» sage. Ich nehme Walter Höhn-Ochsners «Zürcher Volksbotanik» von 1972 hervor und stöbere darin: Der Löwenzahn (Taraxacum officinale) heisst neben Chrottepösche auch: Pfafferöörli, Söistöck, Milchlig, Buggele, Ringelblueme, Rossbluem, Chüngelchruut, Lüüsblueme, Weifäcke, Schnäggechruud, Suewirbel, Chlöpfere, Furze, Griggle, Polentebluem. Und die Kugeln mit den Fruchtständen heissen Liechtli oder Büseli. Es sind Namen, die davon erzählen, wie Kinder die Blätter sammeln, um sie den Kaninchen zu verfüttern, und wie sie die leuchtenden Laternen ausblasen, die Samen im Wind verstreuend. Mit den Namen drohen auch die Geschichten verloren zu gehen. 

Aber nicht nur die Vielfalt der Namen ist bedroht, es mangelt auch an der Fähigkeit, überhaupt die korrekten Namen zu benennen. Wenn ich Schwierigkeiten habe, zehn Schmetterlingsarten aufzuzählen, dann bin ich damit keineswegs allein. Die Artenkenntnis von Erwachsenen und Kindern nimmt ab. Eine Studie über die Schweiz hat gezeigt, dass Kinder zwischen acht und achtzehn Jahren durchschnittlich fünf Pflanzen und sechs Tiernamen benennen konnten. Das hat konkrete Folgen für den Naturschutz, denn die Daten für die Erstellung der Roten Listen stammen etwa zu zwei Dritteln von privaten Artenkennenden. Auch die professionellen Artenkenner:innen werden weniger: Gibt es für Vögel noch etwa zweitausend Expert:innen, so sind es für Tagfalter, Amphibien oder Libellen nur etwas mehr als zwanzig und für Netzflügler oder Eintagsfliegen jeweils eine einzige Person. Häufig sind die Spezialist:innen bereits in die Jahre gekommen, und Nachwuchs fehlt: Nachdem die Hochschulen die Vermittlung von Artenkenntnissen lange Zeit vernachlässigt haben, wurde 2021 immerhin eine nationale Strategie zur verbesserten Bildung der Artenkenntnisse erarbeitet. 

Wir brauchen die Namen und die mit ihnen verbundenen Geschichten, denn sie sind eine Möglichkeit, das Betrauern des Artensterbens kollektiv herzustellen – und diese Trauer auch zu einer Kraft politischer Transformation werden zu lassen.

#SayTheirNames 

Damit sich solch eine politische Kraft entwickeln kann, können wir von den emanzipatorischen Bewegungen für soziale Gerechtigkeit lernen und ihre Protestformen auf nichtmenschliche Lebewesen ausweiten – gerade, was die Bedeutung von Namen angeht: 

Das Hashtag #SayHerName hat sich, seit er 2015 von der Denkfabrik African American Policy Forum etabliert wurde, in den sozialen Medien verbreitet, um die Schwarzen Frauen sichtbar zu machen, die durch Polizeigewalt getötet wurden. Das Aufsagen der Namen der Opfer macht die individuelle Geschichte jeder Person sichtbar, es ist ein Protest gegen die strukturelle Gewalt und ein Hinweis darauf, dass die Leben rassifizierter Frauen weniger geschützt sind. Die Nennung der Namen ist eine Form, die individuelle und die kollektive Trauer verbindet und Veränderungen anstösst. 

Mit dem steigenden Bewusstsein des Artensterbens haben wir bereits begonnen, die letzten Exemplare einer Art zu betrauern, indem wir ihnen Eigennamen geben, wie etwa Martha, die letzte Wandertaube (gestorben 1914 im Zoo von Cincinnati, Ohio), oder Lonesome George, die letzte Pinta-Riesenschildkröte (gestorben 2012 in der Charles-Darwin-Forschungsstation auf den Galapagosinseln). 

Der Biologe E. O. Wilson bezeichnete unsere Zukunft als das «Zeitalter der Einsamkeit». Die Herausforderung der Biodiversitätskrise besteht darin, des Aussterbens ganzer Arten und Unterarten zu gedenken. #SayTheirNames – etwa für die in der Schweiz seit den Achtzigerjahren ausgestorbenen oder verschollenen Gefässpflanzen, darunter: Kleiner Krallenklee (letzte Meldung 1982), Wanderheide (letzte Meldung 1983), Winterlieb (1986), Lacksenf (1990), Donau-Ampfer-Knöterich (1994), Ufer-Hirschsprung (2001). Der Verlust der Vielfalt des Lebens, der sich schleichend, still und weitgehend unbemerkt vollzieht, besteht auch darin, dass die Bestände vieler Arten aktuell so sehr schrumpfen, dass sie langfristig kaum überleben werden. #SayTheirNames für fünfzehn der Arten, die in der Schweiz unmittelbar vom Aussterben bedroht sind: 

Lacksenf, Vielstachelige Armleuchteralge, Stumpfliches Knospenmoos, Rhone-Streber, Kleines Mausohr, Schöne Wimperflechte, Grosser Eichenbock, Zwerglibelle, Rotkopfwürger, Sumpfhornklee-Widderchen, Grosse Grasschnecke, Sägeschrecke, Europäische Sumpfschildkröte, Rosaroter Saftling, Silbrige Zikade. 

In der Praxis des Benennens treffen die ökologische Freude und die Trauer zusammen, und es entsteht Liebe, aber auch Wut: über zu früh gemähte Wiesen, unnötig asphaltierte Flächen oder von Blumen entleerte Landschaften. Die Freude und die Trauer, sie sind das Gegengift gegen die schönfärberische Illusion, alles sei in Ordnung, gegen die Gleichgültigkeit, die nichts an sich heranlässt; aber auch gegen einen resignativen Zynismus, der alles schon verloren glaubt. Sie stehen dem sachlichen Argument nicht entgegen – im Gegenteil, sie tragen dazu bei, wirklich zu begreifen, worum es geht.

CLAUDIA KELLER ist Oberassistentin am Deutschen Seminar der Universität Zürich und Mitglied der Forschungsgruppe «Global Change and Biodiversity».

3-4 Mal jährlich aktuelle Veranstaltungen und Publikationen – unabhängig von Social Media-Algorithmen.