Essay
Die Schweiz ist Mist
Erschienen in: Das Magazin
Juli 2022
Die Schweiz ist Mist
Zu viele Kühe produzieren zu viel Gülle.
Was die Landwirtschaft von Friedrich Dürrenmatt lernen kann.
Bei meinen Wanderungen durch die Schweiz hat mich stets das strahlende Grün der Wiesen fasziniert. Die sprich-wörtlich saftig grüne Wiese war für mich ein Symbol dafür, dass wir in der Schweiz noch in Einklang mit der Natur leben, ganz so wie es die Bilder der Milch-Werbung suggerierten. Es ist noch nicht lange her, dass ich beim Aufstieg zum Aubrig erfuhr: Die Wiesen sind so grün wegen der Gülle. Und: Grüne Wiesen sind für die Artenvielfalt eine Katastrophe.
Gülle ist ein Gemisch aus Urin und Kot, das vor allem Wasser, Mineralien und Pflanzennährstoffe wie Stickstoff enthält. Und bei Wiesen ist es wie im Kapitalismus: Eigentlich hätten alle Pflanzen gerne etwas mehr Nährstoffe. Doch im Kampf um diese Nährstoffe machen sich ein paar wenige Pflanzen auf Kosten der anderen breit – und so bleibt nur das grüne Gras übrig, das für Insekten wertlos ist.
Aus Sch* mach Gold
Dabei hätte ich bereits in der Schule bei der Lektüre von Friedrich Dürren-matts «Der Besuch der alten Dame» darauf aufmerksam werden können, dass mit diesen sattgrünen Wiesen etwas nicht stimmt. Der beissende Geruch der Gülle ist in dem Stück das erste Anzeichen für die nahende Katastrophe. «Wir sind in Güllen. Wir riechen’s, wir riechen’s, wir riechen’s an der Luft, an der Güllener Luft», rufen die blinden Eunuchen Koby und Loby in der 1956 uraufgeführten tragischen Komödie. Der Name der Stadt soll auf Begehren der stimmfähigen Bürger in «Gülden» umgewandelt werden. Denn «Güllen» träumt davon, aus Scheisse Gold zu machen – sprich: den Mist, den man gebaut hat, auch noch in Profit umzumünzen.
Claire Zachanassian, die «alte Dame», der in ihrer Jugend hier ein Unrecht geschah, bietet dem Kaff bekanntermassen einen Deal an. Eine Milliarde für Gerechtigkeit, genauer: für den Tod von Alfred Ill, der sie geschwängert und im Stich gelassen hat. Die Bürger, die Zachanassian damals ihre Unterstützung versagten, lehnen den Deal entrüstet ab. Doch weil sie immer mehr und mehr konsumieren und dabei auf Pump leben, bleibt am Schluss doch kein anderer Ausweg, als dass Ill im Gedränge der versammelten Dorfgemeinschaft wie aus Versehen zu Tode kommt. Die Stadt erhält das Geld, doch die in Güllen vollzogene Gerechtigkeit stinkt.
In Dürrenmatts Stück geht es natürlich nicht um Gülle und die Bewirtschaftung von Weiden. Es ist eine Parabel auf die Nachkriegszeit, die sich mit ihrer Gier nach Wachstum und Wohlstand nicht mit ethischen Fragen aufhalten wollte. Doch es kann kein Zufall sein, dass Dürrenmatt Mitte der Fünfzigerjahre materielle Begehrlichkeiten mit der Klangähnlichkeit von «Güllen» und «Gülden» zum Ausdruck brachte. Denn die Gülle war es, die von Leo Amschler in seinem 1952 erschienen Buch «Die moderne Güllerei» als «das flüssige Gold der Landwirtschaft» bezeichnet wurde. Die Chrysopeia, der alte alchemistische Traum, aus einem unedlen Material Gold herzustellen, schien endlich wahr geworden zu sein. Zwar hat bereits Amschler auf Schäden an Pflanzen und Tieren hingewiesen und betont, dass man in Zukunft mit «Hirn» werde güllen müssen. Aber die dank der Gülle ermöglichte Intensivierung der Landwirtschaft brachte Profit und drängte die Frage nach dem Wohl der Tiere und Pflanzen auf der Wiese ebenso in den Hintergrund wie das der Kühe in den Ställen.
Meine Vorstellung der fruchtbaren grünen Wiese war geprägt von einem Marketing, das den einzigen Zweck verfolgte, mir die Idealisierung meiner Heimat schmackhaft zu machen. Seit 1993 versteht es die Kuh «Lovely» von Swissmilk, die Schweizer Landwirtschaft von ihren dreckigen Seiten freizuhalten und ihr wichtigstes Produkt – die Milch – dem Zeitgeist angepasst in bestem Licht zu präsentieren. Durch meine Jugend hindurch demonstrierte Lovely ihre Steppkünste, nahm es mit Fussballprofis oder Skispringern auf und stellte als Model ihre Schönheit unter Beweis. Jetzt, wo die Zeichen auf grün stehen, heisst es: «Echt stark: Lovely fördert und liebt Biodiversität.» Die Kampagne wird von verschiedenen Seiten, etwa von Pro Natura, kritisiert, weil sie die gegenwärtigen Bedingungen des Landwirtschaftssystems vollkommen ausser Acht lässt. Denn es ist keines-wegs so, dass hierzulande eine einzige Kuh auf einer riesigen Weide steht und nichts anderes frisst als Blumen und Gräser. Und auch das kann man wiederum bei Dürrenmatt nachlesen.
Eine kolossale Mistwand
Ein realistischeres Gegenbild zum Werbe-Idyll der glücklichen Kuh auf der Wiese zeichnete Friedrich Dürrenmatt in seinem weniger bekannten Stück «Herkules und der Stall des Augias». Es entstand fast zeitgleich mit «Der Besuch der alten Dame», erschien 1954 als Hörspiel und wurde 1963 in der Bühnenversion im Zürcher Schauspielhaus uraufgeführt; 1980 hat Dürrenmatt es noch einmal überarbeitet. Die Geschichte bedient sich bei der griechischen Mythologie: Als fünfte der zwölf Aufgaben muss der Halbgott Herkules die durch übermässige Rinderhaltung stark verdreckten Ställe von Augias, dem König von Elis, an einem Tag ausmisten. Wie es sich für einen Helden gehört, erledigt Herkules die Aufgabe innerhalb der gesetzten Frist. Bei Dürrenmatt, der das antike Elis in die Schweiz seiner Zeit verfrachtet, ist das nicht mehr so einfach zu schaffen.
Das Bühnenbild der Neufassung bestand, so die Regieanweisung, aus einer «kolossalen Mistwand, einer kubischen Eigernordwand nicht unähnlich». Noch mehr als «Der Besuch der alten Dame» lässt sich dieses Stück nicht nur als politische Karikatur lesen, sondern auch ganz direkt darauf beziehen, wie seit den Fünfzigerjahren die Umweltzerstörung fast ungebremst ihren Lauf nimmt und das Bild der Schweizer Idylle langsam erodieren lässt.
Zu Beginn des Dramas reden die elischen Parlamentarier, allesamt zur Hälfte im Mist versunken, wild durcheinander. Sie wissen, dass sie «total vermistet» sind und Augias – hier nicht König, sondern Präsident – wittert seine Chance. Er präsentiert seine Idee, «radikal» auszumisten und so, visionär wie es sich für einen Politiker gehört, eine «Gesamterneuerung» zu ermöglichen. Doch das alles selbst zu machen erweist sich als zu mühsam; die Bäuerinnen und Bauern hätten keine Zeit mehr, sich um die Kühe zu kümmern, «die Käse- und Butterherstellung, der Export wird zurückgehen, und der Verlust kommt uns teurer zu stehen als die ganze Ausmisterei». Sobald es unbequem wird, ein Problem zu lösen, zieht dieses wirtschaftliche Argument verlässlich – egal ob es um die Bewältigung einer Pandemie, die Reduktion von CO2 oder um ökologische Reformen der Landwirtschaft geht. Es muss also ein Held her, der die Drecksarbeit erledigt.
Nie zu spät, stets zu früh
Der um Hilfe gebetene Herkules präsentiert seinen Vorschlag, der in der antiken Mythologie Erfolg hatte: Er wolle die Flüsse stauen und den ganzen Mist in den Ozean schwemmen – «und wenn ich das Ionische Meer verpeste!» Im Dürrenmatt’schen Elis stösst dieser Vorschlag zunächst auf Zustimmung, scheitert dann aber an den Mühlen der Bürokratie, an den sich verzögernden Genehmigungen des Wasseramts, Fremdenamts, Arbeitsamts, Tiefbauamts, Finanzamts und des Mistamts.
Auch in der heutigen Realität ist dies nicht viel anders: Ideen für den Naturschutz scheitern oft genug an Ämtern, die sich gegenseitig im Weg stehen, auch wenn die Massnahmen nicht annähernd so radikal sind wie die von Herkules. Damals wie heute ist der Naturschutz eingekeilt zwischen Paragrafen und Instrumenten und geht irgendwo im Graubereich zwischen Bund, Kantonen und Gemeinden verloren.
Irgendwann entbrennt in Elis ein Streit darüber, ob man Herkules’ Lösung überhaupt möchte. Eine Partei äussert Bedenken, dass durch die Spülung der Stadt wertvolle Kulturgüter zerstört werden könnten, die unter dem Mist verborgen liegen. Eine andere Partei spekuliert, dass diese Kulturgüter vielleicht gar nie existiert haben und durch die (Auf-)Klärung sich der Glaube als Irrglaube herausstellen könnte.
Ein gewisser Sisyphos von Milchiwil hingegen nimmt dann eine ganz pragmatische Perspektive ein: Die elische Volkswirtschaft stehe auf dem «soliden Sockel» des Mistes, ganz Griechenland und die umliegenden Nationen «düngen mit elischem Kompost» – kein Grund also, den Ast abzusägen, auf dem man sitzt.
Nicht nur auf der Bühne, auch in der Realität ist der Mist-Export – oder wie er auch genannt wird: Gülle-Tourismus – bis heute in der Schweiz und in Europa ein Thema. Nur lukrative Geschäfte lassen sich damit nicht mehr machen. Weil Landwirt:innen zu viel davon produzieren, wird die Gülle weit herumgekarrt, um sie irgendwie loszuwerden.
Eine Kommission, eine Gegenkommission, eine Zwischen- und Oberkommission in Elis sollen die Idee des radikalen Ausmistens schliesslich noch einmal überprüfen. Auf die Warnung, dass der Mist überhandnehme und es bald zu spät sein könnte, führen die Parlamentarier das Mantra an: «In der elischen Politik / In der elischen Politik / Ist es nie zu spät, doch stets zu früh.» Müssen erst die neuen Biodiversitätsziele für das Jahr 2030 verfehlt werden, bis auch unser Elis sich eingesteht, nie zu früh, sondern stets zu spät zu sein?
Am Ende ist der an Herkules gezahlte Vorschuss aufgebraucht. Er ist pleite und tritt erfolglos im Zirkus auf. Vor allem aber sind die Probleme nicht gelöst. Nach der Dürrenmatt-Lektüre wird einem klar, dass das eigentliche Problem darin besteht, dass der Mist so schwer aus den Köpfen der Bürger: innen zu entfernen ist.
Wie sowohl individuell wie auch kollektiv das Bild einer anderen Schweizer Landschaft entstehen könnte, ist eine Frage, die auch Dürrenmatts satirische Analyse nicht beantworten kann. Dafür muss man sich den Mist, der aus der Kuh kommt, nämlich einmal ganz genau ansehen.
Auf die Konsistenz kommt es an
Es war ein langer Prozess, bis ich verstanden habe, dass «grün» nicht immer «gut» bedeutet. Ich sah Dürrenmatts Mistberge vor mir und fragte mich, wie ein Ausweg aussehen könnte. Wäre eine Geschichte vorstellbar, in der Lovely tatsächlich positiv zur Biodiversität beiträgt, so wie es in der Werbung behauptet wird? Das von der Swissmilk-Kampagne schöngeredete Problem besteht darin, dass wir aktuell viel zu viele Tiere haben. Wenn einfach nur ein paar wenige Kühe und Rinder auf einer grossen Weide grasen würden, wäre einiges anders. Lovely würde beispielsweise nicht Unmengen an Gülle, sondern primär Kuhfladen produzieren.
Das mag banal klingen, ist aber ein entscheidender Unterschied. Wenn über die negativen Auswirkungen von Gülle gesprochen wird, dann wird oft etwas Wesentliches nicht erwähnt: dass es bei der Kuhscheisse auch auf die Konsistenz ankommt. Für Mistkäfer etwa ist flüssige Gülle nutzlos. Sie brauchen Fladen, aus denen sie ihre Mistkugeln formen können, die sie dann als Nahrungsvorrat für die Larven wegrollen. Aber auch bei vielen anderen Insekten sind Kuhfladen beliebt, als Nahrung ebenso wie zur Fortpflanzung.
Es gibt Youtube-Videos, die dieses Mini-Ökosystem dokumentieren: Man sieht da, wie die gelbe Dungfliege sich auf dem Kuhfladen paart und Eier mit Spangen hineinlegt, die die Sauerstoffzufuhr ermöglichen. Die Dungkugelkäfer durchbrechen die harte Kruste, die sich nach ein paar Tagen bildet. Ihre Tunnel ermöglichen es wiederum der Schwingfliege, sich im Kuhfladen zu bewegen. Verschiedene Insekten wie die Raubmilben essen Fliegenlarven, und die Brackwespe legt ihre Eier in die Larven von Fliegen. Springschwänze essen den Dung, verwandeln Pflanzenreste in Humus. Auch Schmetterlinge, etwa die Bläulinge mit ihren schillernden Blau-, Türkis- und Violett-Tönen, sitzen gerne auf Kuhfladen und versorgen sich dort mit Mineralien.
Die Insekten bauen Kuhfladen innerhalb von mehreren Wochen ab – und verhindern so eigentlich zuverlässig, dass das Szenario von Elis wahr wird. Pro Natura hat es einmal so formuliert: «Ohne funktionierende Kuhfladenfauna würde jährlich in der Schweiz eine Fläche so gross wie der Bodensee unter Kuhfladen verschwinden.» Wir brauchen gar keinen grossen Helden – es reicht, die etwa 6000 Insekten mehrerer Hundert Arten auf einem Kuhfladen das tun zu lassen, was sie eben tun: sich paaren, Eier ablegen, den Dung und sich gegenseitig essen.
Wenn es aber keine Kuhfladen gibt, sondern nur Gülle, dann gefährdet dies auch die Insekten. 2017 hat die sogenannte Krefelder Studie gezeigt, dass in den untersuchten Naturschutzgebieten innerhalb von 27 Jahren die Anzahl fliegender Insekten um 75 Prozent zurückgegangen ist. Und der erste umfassende Bericht zum Zustand der Insekten in der Schweiz von 2021 hat dargelegt, dass von den überwachten Insektenarten in der Schweiz bis zu sechzig Prozent gefährdet sind – wobei die Schwierigkeit darin besteht, dass wir nicht einmal wissen, ob es in der Schweiz eher 45’000 oder 60’000 Insektenarten gibt.
Der auf Weiden spezialisierte Ökologe Herbert Nickel hat ausgerechnet, dass eine Kuh auf der Weide pro Monat eine Tonne Kuhfladen produziert, die die Lebensbedingungen für zwanzig Kilogramm Insekten und zehn Kilogramm Vögel schaffen könnten – eine abstrakte Kalkulation für die einfache Tatsache, dass viele Insekten Nahrung für zahlreiche Vögel darstellen. Die Realität sieht aber oft anders aus: Wenn die Kühe ausnahmsweise auf einer Weide stehen, dann produzieren sie meist sogenannte Betonfladen – Kuhfladen, die nicht oder viel zu langsam abgebaut werden, weil sie von Kühen ausgeschieden wurden, die mit Avermectinen behandelt worden sind. Ohne diese Mittel gegen Würmer, Milben, Fliegen und Mücken wäre die Intensivbeweidung von heute kaum möglich, nur wird über die tödlichen Nebenwirkungen für die Insekten kaum gesprochen.
Oft genug werden ausserdem prophylaktisch Breitbandantibiotika eingesetzt, deren Reste sich auch bei Mistkäfern nachweisen lassen und die sogar dazu führen, dass die Kuhfladen noch mehr des Treibhausgases Methan ausstossen. Während die Auswirkungen des Klimawandels immer sichtbarer werden, vollzieht sich das Aussterben der Arten leiser. Jede Generation erwartet bereits eine kleinere Artenvielfalt, wir haben uns an leere Landschaften gewöhnt und idealisieren sie sogar im Fall der grünen Wiese. Es gibt kein kollektives Trauern, keine wiederkehrenden Proteste, obwohl «die einzige Katastrophe, die sich nicht rückgängig machen lässt, das Aussterben ist», wie es in Kim Stanley Robinsons grossartigem, auch in der Schweiz spielendem Roman «Das Ministerium für die Zukunft» heisst.
Vielfalt erzeugt Vielfalt
Wie auch Robinsons Buch handeln Dürrenmatts Stücke von den Krisen des Anthropozäns – Krisen, die wir selbst geschaffen haben. Im kleinen Städtchen Güllen wird Gerechtigkeit gefordert und ein neues Verbrechen begangen, ohne dass es jemand merkt. Man will eine Lösung, manövriert sich aber nur noch tiefer in die Scheisse hinein. Und auch die Erkenntnis der Elier:innen, dass sie «total vermistet» seien, trifft nicht nur dort zu, wo man tatsächlich die Gülle riechen und die Mistberge sehen kann.
Wir können auch deswegen auf keinen Helden mehr hoffen, der in einer glorreichen Aktion alles einmal durchspült und uns wieder in einen imaginierten reinen Ursprungszustand zurückführt, weil wir nicht länger ignorieren können, dass ein radikales Ausmisten an einem Ort zur Verschmutzung eines anderen führt. Wir sind durch den Mist global verbunden. Wir werden ihn nicht so einfach los, aber dennoch kann man etwas mit der Situation machen.
Heldensagen mögen in der Antike funktioniert haben, heute braucht es andere Geschichten. Sie spielen beispielsweise auf extensiven Weiden, und ihre Protagonist:innen sind nicht auf Hochleistung gezüchtete Kühe, sondern Extensivrassen wie Hochlandrinder, die durch ihr Verhalten die Artenvielfalt fördern. Wenn sie zusammen mit Pferden und Schweinen in geringer Anzahl auf der Weide leben, dann essen die Tiere unterschiedliche Pflanzen, bearbeiten Bäume und Büsche auf ungleicher Höhe und schaffen so kleinstrukturierte Lebensräume mit vielen Blüten. In offenen Bodenstellen können Wildbienen nisten sowie Samen keimen, und in den durch Suhlen entstandenen Tümpeln pflanzt sich die gefährdete Gelbbauchunke fort. Diese Landschaften folgen einem einfachen ökologischen Prinzip: Vielfalt erzeugt Vielfalt.
Die makellos grüne Wiese dagegen bringt gleich zwei Probleme mit sich: Einerseits steigt durch das Güllen die Stickstoffbelastung im Boden übermässig an. Andererseits führt das Vermischen von Kot und Urin dazu, dass die Nährstoffe überall gleichmässig verteilt werden. Auf einer Weide hingegen gibt es durch Urinpfützen und Kuhfladen Nährstoffkonzentrationen an einem Ort, während andere Stellen mager bleiben, was unterschiedliche Lebensbedingungen schafft.
Anders als Herkules, der Probleme der Intensivierung mit einer ebenso intensiven, kraftvollen Tat lösen will, ist die extensive Weide ein in die Breite gehender, differenzierterer Ansatz. Im Anthropozän ist es illusorisch, dass wir Menschen uns einfach zurücknehmen und die «Natur» ihrem von uns imaginierten Gleichgewicht überlassen. Aber wir können unsere Rettungsfantasien, die auch Kontrollfantasien sind, etwas zurücknehmen.
Die extensive Weide ist auch deswegen das Gegenteil der weitverbreiteten Gleichförmigkeit in unserer Landschaft, weil darin Tiere zu Akteuren werden. Sie ermöglichen eine von Zufällen geprägte Eigendynamik, die nicht zu einer unberührten Wildnis zurückführt, sondern eine eigene Qualität von Wildheit mit sich bringt. Die extensiven Weiden erinnern daran, dass Landwirtschaft und Biodiversität einst keine Gegensätze waren und sowohl wilde wie domestizierte Tiere viel stärker die Landschaft prägten.
Ein vertretbarer Furz
Die Klima- und Biodiversitätskrisen werden nicht gelöst, wenn wir weiterhin nur in Gegensätzen wie «biologisch versus konventionell» oder «vegan versus karnivor» denken. Auch hier braucht es mehr Vielfalt. Zwar wird es schwierig, wenn wir uns weiterhin über das Klischee der Käse-Nation definieren, denn nicht nur der Konsum von Fleisch, sondern auch der von Milchprodukten erfordert produktionsorientierte Rassen und Kraftfutter. Aber selten Weidefleisch zu essen kann – auch wenn dafür mal eine rülpsende und furzende Kuh Methan ausstösst – aus Sicht der Biodiversität durchaus vertretbar sein.
Denn extensive Weiden können auch klimaintensivere Formen von Landwirtschaft ersetzen. Anstatt die Tiere zum Nahrungskonkurrenten des Menschen zu machen, indem ihnen Mais oder Soja verfüttert wird, können sie das für uns nicht geniessbare Grünland in Fleisch verwandeln. Zudem ist im humusreichen Boden des Graslandes viel CO2 gespeichert, das freigesetzt werden kann, wenn es zu Ackerland umgegraben wird. Auch deshalb sollten wir Weiden schützen.
Auf der Weide gibt es keine rigorosen Grenzen zwischen Veganer:innen, Vegetarier:innen und Fleischesser:innen, zwischen Landwirtschaft und Naturschutz, zwischen «böser» menschlicher Kultur und «guter» unberührter Natur. Bei Dürrenmatt erkennen wir, wie moralische Prinzipien der Menschen scheitern. Auf der Weide sehen wir, wie wichtig es ist, dass der Mistkäfer seinen Kuhfladen hat, auch wenn uns das vermeintlich nicht betrifft. Von der Weide lernen wir, wie Mensch und Natur neue Bündnisse schliessen.
CLAUDIA KELLER ist Oberassistentin am Deutschen Seminar der Universität Zürich und Mitglied der Forschungsgruppe «Global Change and Biodiversity».